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Die WAGNER-RALLYE 2004
nach Motiven von Alexander Kluge
Nach Motiven von Alexander Kluge initiiert der Ober- hausener Regisseur im Rahmen der diesjährigen Ruhrfestspiele Recklinghausen vom 6. bis 8.5.2004 eine Autorundfahrt durch das Ruhrgebiet, die unter dem Titel Wagner-Rallye die prägenden Städte der Region anfahren möchte.
10 Personenkraftwagen à 2 Insassen sind dazu aufgerufen, ausgehend von Recklinghausen die Städte Bochum, Castrop-Rauxel, Dortmund, Gelsenkirchen, Gladbeck, Bottrop, Mülheim/Ruhr, Essen, Herne und Oberhausen anzufahren, um vor Ort Wissens- und Geschicklichkeitsaufgaben zu lösen, die sich mit der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft des Ruhrgebiets befassen.
Christoph Schlingensief:
»Das Ruhrgebiet ist sehr speziell. Ich wollte immer etwas machen, dass seine Städte miteinander verbindet - deshalb die Rallye. Es ist kein Wettrennen, es geht nicht um Raserei. Es geht um regionale, soziale und auch triviale Inhalte, es ist eine Schnitzeljagd nach Synchronisation, nach den Teilen des großen Ganzen.«
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Musikalisch wird die Rundfahrt von der Neuen Philharmonie NRW gestaltet. Des Weiteren sind diverse Musiken aus Opern Richard Wagners eingespielt worden, die über handelsübliche Lautsprecher von den Dächern der beteiligten Pkws ausgespielt werden sollen. Für Christoph Schlingensief, der in diesem Jahr die Bayreuther Festspiele mit seiner Inszenierung des »Parsifal« eröffnen wird, steht Wagner ebenso stellvertretend wie die zu befahrende Region für ein Stück Vergangenheit, ein Stück Gegenwart, ein maßgebliches Stück Zukunft Kulturdeutschlands. Ebenso wie die Fahrzeuge selbst soll das Werk Wagners in die Region ausstrahlen, ausströmen, um an zentralen Standorten wieder zusammen zu finden.
Wie sich die Ruhrfestspiele Recklinghausen von ihrem Ursprung her als Gegenpart der hochkulturellen Bayreuther Festspiele begreifen, will auch die Wagner-Rallye einen konträren Weg der kulturellen Vermittlung wählen. Es geht nicht um die Versammlung, die Zentralisation einer in sich geschlossenen Kultur-, hier Operngemeinde, sondern vielmehr um die Loslösung, das Ausschwärmen der Kultur in all jene Richtungen, in denen sie auf interessierte und begeisterte Menschen trifft. Für diese Dezentralisation steht das Ruhrgebiet, für diese Dezentralisation will die Wagner-Rallye stehen.
»Die Rallye zeigt, dass das alltägliche Leben, z.B. das Autofahren und die Oper enger zusammen hängen als man denkt. Das Instrument, der einzelne Klang, ist separiert genauso isoliert und dumpf wie der einzelne Mensch.«
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Jeder der drei Veranstaltungstage beinhaltet einen Startort, einen Zwischenstopp und einen Zielort. Um die »Wagner-Rallye« einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, sollen diese Stationen an zentralen Standorten innerhalb der anzufahrenden Städte liegen.
Die an der Wagner-Rallye teilnehmenden Fahrzeuge sind handelsübliche Personenkraftwagen. Die Straßen des Ruhrgebiets werden ebenso wenig wie die angestrebten Start-, Zwischen- und Zielstationen als Rennstrecke missbraucht. Die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung genießt oberste Priorität. Um Raserei und unbedachtes Fahren von vornherein auszuschließen, sind die Bundesautobahnen von der geplanten Route der Wagner-Rallye ausgenommen. Die einzelnen Standorte sind lediglich als Ab- bzw. Anfahrstellen von maßgeblicher Bedeutung für das Gelingen der Veranstaltung.
»Erst da, wo verschiedene Erfahrungen wieder aufeinander treffen, ergeben sich Harmonien und Möglichkeiten der Veränderung. Das ist angesichts einer zunehmenden Isolation und der Arbeitslosenzahlen in Gelsenkirchen oder Duisburg weniger sozialkitschig als es zunächst klingen mag.«
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»Die Götterdämmerung« in Wien
Die Wurzeln der Wagner-Rallye gehen zurück bis in das Jahr 1945, auf eine Geschichte aus dem Wien der letzten Kriegstage. Der Regisseur, Literat und Jurist Alexander Kluge erzählt sie in seiner zweibändigen »Chronik der Gefühle« [Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Band I und II. Frankfurt am Main 2000.]:
Im März 1945 wird Wien von sowjetischen Stoßtrupps umstellt, die nur noch nach Norden und Nordosten hin eine direkte Landverbindung zum Deutschen Reich ermöglicht. NS-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Baldur von Schirach befiehlt daraufhin eine Aufführung der Götterdämmerung als »letzte Botschaft des kämpfenden Reichs«. Da die Wiener Oper selbst bereits ausgebombt ist, wird das Orchester auf verschiedene Luftschutzkeller im Stadtbereich verteilt und durch Funktelefone »im Spiel« miteinander verbunden. In aussichtsloser Lage soll die von Richard Wagner komponierte Verzweiflung der Nibelungen, aber auch die in den Schlussakkorden enthaltene Hoffnung auf Wiederkehr, über alle Sender des Südostens übertragen werden, sofern sich diese in deutscher Hand befinden: »Wenn schon das Reich untergeht, muss uns die Musik doch bleiben.« Unter dem Eindruck der überirdisch sich fortsetzenden Kämpfe, gelingt es im Innern der Erde, einzelne Teile der Wagneroper durchzuspielen und filmisch zu dokumentieren.
Nach dem Fall Wiens gelangen die Filmfragmente in den Besitz eines georgischen Obersts, der sie nach Sotschi, einer russischen Stadt an der Schwarzmeerküste, bringen lässt. Dort lagern sie beinahe 5O Jahre vergessen in einem Museumskeller. Niemals gesendet, entdeckt ein Schüler des Komponisten Luigi Nono das Material. Über Umwege findet es seinen Weg in die Redaktion der Cahiers du Cinéma in Paris. Bald darauf findet eine erste Vorführung der Wiener Götterdämmerung statt.
In dieser fragmentarischen Form, so legt Alexander Kluges Bericht nahe, ist Wagners Musik authentisch »aufgehoben«. Die Geschichte der »Götterdämmerung von Wien« selbst steht für zwei wesenhafte Synonyme des Kunstbegriffs: für den Ernstfall Mensch und zugleich für den Ausweg aus der humanen Sackgasse.
Was hier, nach einem halben Jahrhundert, zu sehen und zu hören ist, ist nicht weniger als »die Wiedererstehung der Musik aus dem Geiste der Zeitgeschichte. Die Räume sind die Nachricht«. Räume zu schaffen, in denen die Musik und Kunst überhaupt zu einem authentischen Zeugnis der Geschichte werden. Damit ist bereits ein essentielles Anliegen der Arbeit Kluges, auch der Arbeit Schlingensiefs, der Wagner-Rallye, beschrieben.
> Alexander Kluge: Die Götterdämmerung in Wien
Stand 27.04.2004 14:12
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