|
|
|
|
|
Wagner-Rallye 2004 Pressespiegel
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Nr. 19, Seite 24, 09.05.2004
BRASILIANISCHE MUSIK UND NEW YORKER POP IN BERLIN / WAGNER IM RUHRGEBIET
»Wagnerheber - Schlingensief rast über die grünen Hügel von Bottrop«
FREITAG ABEND. Wir sitzen bei den ersten Geigen, hinten auf der Rückbank. Zwischen Plastiktüten, leeren Wasserflaschen und einem verkabelten Pappkarton mit dem Discman samt blinkender Endstufe. Das Team "Tannhäuser" fährt einen Isuzu Trooper mit Soester Kennzeichen, Baujahr 1992. Der Motor des Geländewagens läuft im Standgas warm, der Schaltknüppel vibriert, die Scheibenwischer stöhnen leise. Aus dem Dachlautsprecher quillt das getragene Vorspiel zu den "Meistersingern".
Christoph Schlingensief steht im Formel-1-Anzug an der Feuerwehrzufahrt des Musiktheaters Gelsenkirchen, brüllt ins Megaphon und senkt die karierte Startfahne. Die zweite Tagesetappe der "Wagner-Rallye" beginnt an einem gottverlassenen Vormittag, während Eisregen fällt wie ein flüssiger Bombenteppich. Natürlich denken wir für Augenblicke, bei Wagner verspräche eine Fahrt mit den Hörnern mehr Heroik. Wir sehen die Hubschrauber aus "Apocalypse Now" über der Küste Vietnams aufsteigen, den Feind mit dem "Walkürenritt" beschallend.
Aber dieses bedrohliche Pathos paßt nicht ins Revier mit seinen Klinkerfassaden, Straßenbahnschienen, Trinkhallen und Jägerzäunen. Auch die Piloten vom Team "Tannhäuser", zwei nette Ruhrgebietler um die Dreißig, setzen auf Abkühlung durch Pragmatik. Den ersten Preis, eine Eintrittskarte für Bayreuth, wollen sie im Fall der Fälle bei Ebay versteigern. Constantin Schlünder und Detlef Schirmeister fahren ansonsten lieber auf Punk-Konzerte. Nun sollen sie zum Beispiel - Aufgabe sechs der Schnitzeljagd - bei jener Bank zehn Euro abheben, wo im August 1988 das "Gladbecker Geiseldrama" begann.
Der Plan scheitert: Längst sind in dem tristen Baukomplex namens "Geschäftszentrum Nord" eine "Döneria" und ein "Schlecker" untergebracht. Aber das Digitalfoto vom Schaufenster des Drogeriemarkts bringt sicher Extrapunkte. "Da packt einen schon das Fieber", sagt Schlünder am Steuer und hupt einen vor einer Parklücke schlafenden Audi-Fahrer wach, "das hat irgendwie schon alles mit Wahnfried zu tun." Auf dem Dach flirren die vereinsamten Streicher aus der "Götterdämmerung". Manchmal pausiert die Stimme für Minuten. Beifahrer Schirmeister ruft einen Telefonjoker namens "Pille" an und fragt - langsam und deutlich, zum Mitschreiben - nach, wieviel Verkehrstote laut Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung im Jahr 2002 auf hundert Unfälle in Bottrop kamen.
Beim Zwischenstopp auf dem Bottroper Pferdemarkt dröhnt mit Kirmestechno vermischte Wagnermusik aus einer Zirkusbude. Nun ist die auf zehn Autos verteilte Partitur wieder vereint. Bloß die Harfe fehlt noch im motorisierten Gesamtkunstwerk. Schulkinder bestaunen einen Toyota Corolla mit AC/DC-Schriftzug, der Sturmwind knickt Regenschirme um. "Die Oper kommt zurück auf die Straße", ruft Schlingensief ins Megaphon, "dort, wo sie herkommt!"
Fürs Wochenende ist härtestes Wagner-Wetter angekündigt. Wir sitzen wieder im alten Jeep auf der vollgerümpelten Rückbank. Besser kann sich auch ein gepolsterter Sitz im Bayreuther Festspielhaus nicht anfühlen.
Andreas Rosenfelder
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stand 17.05.2004 11:35
|
|
|
|
|
|